Neumann: Werdegang und Werk des großen deutschen Barockbaumeisters

Neumann: Werdegang und Werk des großen deutschen Barockbaumeisters
Neumann: Werdegang und Werk des großen deutschen Barockbaumeisters
 
Balthasar Neumann, der bedeutendste, vielseitigste Architekt des deutschen Barock, ist heute in den illustren Kreis jener »Großen Deutschen« aufgenommen, denen sogar eine Banknote, der Fünfzigmarkschein, gewidmet wurde. So ist sein Konterfei überall präsent und jedem Deutschen vertraut, auch wenn manch einer gar nicht weiß, wer der freundliche Herr mit Perücke und Harnisch eigentlich war.
 
Er war der große Vollender der Barockarchitektur. Zu seinen Lebzeiten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war er über weite Strecken des Reichs die erste Autorität des Bauwesens überhaupt. Seine Dienstherren und wichtigsten Auftraggeber waren die Fürstbischöfe aus dem Haus Schönborn, die in Franken, am Rhein und an der Mosel nicht weniger als zwei Erzbistümer und fünf Bistümer in der Hand hatten: Mainz und Trier sowie Würzburg, Bamberg, Worms, Speyer und Konstanz. Mainz und Trier waren zugleich Kurfürstentümer.
 
Als Hausarchitekt der Schönborn hatte Neumann im Bauwesen dieser Bistümer eine fast allgewaltige Stellung. Mit zunehmender Berühmtheit arbeitete er auch für andere ranghohe Fürsten: für den Fürsterzbischof und Kurfürsten von Köln, den Herzog von Württemberg, den Markgrafen von Baden, den Kurfürsten von der Pfalz und nicht zuletzt auch für Kaiserin Maria Theresia in Wien.
 
Die hohe Wertschätzung bei den Bauherren verdankte Neumann einer vielseitigen Begabung. Er war mit sicherem Gefühl für Proportionen ein Meister der Fassadenkunst und genauso auch ein erfindungsreicher, fantasievoller Raumschöpfer. Die analytische Klarheit seines Geistes basierte auf wissenschaftlichen Kenntnissen, mit denen er auch den Wasser- und Festungsbau, die Feldmesserei und die bautechnisch-statischen Probleme der Konstruktion beherrschte. Weiterhin hatte er sich durch Reisen und das Studium von Architekturtraktaten und Stichwerken einen Überblick über die damals modernsten Bauten in Europa verschafft. Und endlich grenzte seine Arbeitskraft für die vielen Auftraggeber ans Übermenschliche. Er war die Zuverlässigkeit in Person. In der Baukunst gab es nichts, was er nicht mit Bravour gemeistert hätte. Deshalb wurde er mehrfach bei verfahrenen, ausweglosen Situationen als Retter in der Not geholt. Mit diesen Fähigkeiten gelang es ihm, die Architektur seines Zeitalters wie in einem glänzenden Schlussakkord noch einmal zu höchster Blüte zu bringen.
 
Dabei hatte er das Bauen nie von der Pike auf gelernt. Er kam nicht vom Maurerhandwerk her, sondern vom Ingenieurswesen, und hierzu gehörte u. a. der Festungsbau. Einen Aufstieg für Ingenieure versprach die Militärlaufbahn. Deswegen waren viele Barockarchitekten im Hauptberuf Offizier, z. B. Maximilian von Welsch in Mainz, der es sogar bis zum General brachte. Auch Neumann wurde Offizier, doch kam er zum Militär erst über Umwege.
 
 
Sein Werdegang grenzt manchmal an ein Wunder. Gelernt hatte er, der 1687 als Sohn eines armen Tuchmachers im böhmischen Eger geboren worden war, den Glocken- und Metallguss. Völlig mittellos kam er 1711 nach Würzburg, ausgestattet mit dem Lehrbrief der »Büchsenmacher der Ernst- und Lustfeuerwerkerey«. Hier trat er zunächst in eine Gießhütte ein, bis er von einem Offizier entdeckt wurde: dem Ingenieurshauptmann Andreas Müller. Dieser unterwies den jungen Mann in den Wissenschaften der Geometrie, Mathematik und Landvermessung und zugleich in der Zivil- und Militärbaukunst wie auch in der Proportionslehre. Neumann gab für das Studium seinen Gießerberuf auf und lebte nun von Darlehen seiner Heimatstadt Eger, die er 1722 getreulich wieder zurückgezahlt hat. Zuletzt lernte er auch noch die lateinische, italienische und französische Sprache. Hier soll es der Fürstbischof selbst gewesen sein, der ihm die Möglichkeit dazu gab.
 
1714 trat Neumann bei der Artillerie ins Militär ein, wo er zeitlebens verblieb. Er brachte es zum Oberst der Artillerie im fränkischen Kreis, und als Oberst in Paradeuniform, auf einer Kanone sitzend, wurde er 1753 von Tiepolo auf dem Treppenhausfresko der Würzburger Residenz porträtiert.
 
1717 konnte Neumann seinen Horizont entscheidend erweitern, als er unter Prinz Eugen mit den fränkischen Truppen im Türkenkrieg an der Belagerung der Festung Belgrad teilnahm. Anschließend studierte er in Wien die neuen Bauten des Fischer von Erlach und Lukas von Hildebrandt, die Neumann erstmals ein Bild von großer moderner Architektur vermittelten. Das war der Standard, mit dem er sich bald zu messen hatte. Die Gelegenheit kam wenig später, als zum neuen Würzburger Fürstbischof 1719 Johann Philipp Franz von Schönborn gewählt wurde, der älteste der Schönbornbrüder.
 
Kaum im Amt, begann dieser mit Ungeduld jenen Großbau, der zum Inbegriff des deutschen Barockschlosses geworden ist: die Würzburger Residenz. Hierfür hatte er ein Finanzpolster von 500 000 Gulden, eine Riesensumme, die der Hofkammerdirektor des vorangehenden Fürstbischofs unterschlagen hatte und nun zurückzahlen musste. Die Residenz wurde zum Prestigebau der Familie Schönborn. Sofort schalteten sich zwei weitere Mitglieder der Familie, die den Bauherrn für einen beschränkten Provinzbischof ohne Architekturverständnis hielten, in die Planung ein: der Onkel Lothar Franz, Fürsterzbischof und Kurfürst von Mainz, der zugleich Fürstbischof von Bamberg und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches war, sowie der jüngere Bruder Friedrich Karl, Reichsvizekanzler in Wien.
 
 Ernennung zum Bauleiter der Residenz
 
Lothar Franz gebot über einen ganzen Architektenstab mit Maximilian von Welsch, und Friedrich Karl konnte über den kaiserlichen Hofarchitekten Lukas von Hildebrandt verfügen, den führenden Schlossbaumeister. In Würzburg aber gab es keinen renommierten Architekten. Der Fürstbischof ernannte nun zum Planungs- und Bauleiter der Residenz mit fast schon prophetischer Voraussicht den gänzlich unbekannten Neumann. So war dieser über Nacht der Chefarchitekt des anspruchsvollsten Bauvorhabens geworden, das es im ganzen Reich gab, ein kometenhafter Aufstieg. Die Residenz war und blieb dann auch seine wichtigste Lebensaufgabe, bis er den Bau nach drei Jahrzehnten vollendet hatte.
 
Neumanns Aufgabe bestand zunächst darin, seine eigenen Pläne mit denen der anderen Büros zu koordinieren, vor allem mit denen des Maximilian von Welsch in Mainz. Nach Meinung des Kurfürsten Lothar Franz brachte man in Würzburg aber nur eine »zertrümmerte und verstümmelte Baumissgeburt« zustande, weshalb Neumann 1723, als der Bau längst begonnen war, nach Paris geschickt wurde, wo die Pläne von den Architekten des Königs begutachtet werden sollten. Beide, Robert de Cotte und Germain Boffrand, die nun selber Pläne entwarfen, hatten von Architektur aber eine derart andere Vorstellung, dass die Pläne sich kaum noch mit denen Neumanns verbinden ließen. So darf die Residenz, wie sie in den ersten Jahren geplant und gebaut wurde, im Wesentlichen als Neumanns Werk gelten.
 
1729 wurde Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn zum Fürstbischof von Würzburg und Bamberg gewählt. Er ernannte Neumann in beiden Bistümern zum Oberbaudirektor und brachte die Arbeiten an der Residenz energisch zum Abschluss. Für Neumann war jetzt Hildebrandt der Konkurrent, zumal dieser bis zuletzt der bevorzugte Favorit des Friedrich Karl blieb. Neumann musste fünfmal zu Bausitzungen nach Wien reisen, wie umgekehrt Hildebrandt dreimal nach Würzburg kam.
 
Das Äußere der Residenz mit den klassisch strengen Fassaden trägt ganz das Gepräge Neumanns, beim Kernbau in der Mitte aber griff Hildebrandt ein, der dem Bau nun an der Hof- und Gartenseite etwas gab, was ihm noch fehlte: eine festliche hochfürstliche Pracht. Die Bevorzugung Hildebrandts an der wichtigsten Stelle der Residenz war für Neumann gewiss eine bittere Niederlage.
 
Diese Scharte konnte er im Inneren wieder auswetzen: im Treppenhaus, das als Ort für das fürstliche Empfangszeremoniell der anspruchsvollste Raum des ganzen Schlosses werden musste. Hier setzte sich Neumann gegen Hildebrandt mit seinem Vorschlag durch, den Raum, der eine Breite von immerhin 19 Metern hat, mit einem einzigen Flachgewölbe zu überspannen. Hildebrandt wollte, wenn das Gewölbe halten würde, eigens von Wien anreisen und sich auf eigene Kosten daran aufhängen; Neumann hingegen bot an, Kanonen im Treppenhaus abfeuern zu lassen, um die Haltbarkeit des Gewölbes zu beweisen. Tatsächlich hat es 1945 den Einsturz des brennenden Dachstuhls ohne weiteres überstanden.
 
Die technische Bravourleistung der Wölbung gab Neumann freie Hand bei der Gestaltung des fünfschiffigen, völlig durchsichtigen Treppenbaues darunter, wo der Anstieg mit unübertroffener Leichtigkeit immer freier wird, bis er oben unter dem weltüberspannenden Himmel von Tiepolos Deckenfresko eine festliche, unverstellte Weiträumigkeit erreicht. Heute ist das Würzburger Treppenhaus das berühmteste der Welt.
 
 Erster Schlossbaumeister des Reiches
 
Die Residenz machte Neumann zum ersten Schlossbaumeister des Reiches und zum unübertroffenen Meister repräsentativer Treppenhäuser. Friedrich Karl ließ sich von Neumann noch ein weiteres Schloss errichten, die Sommerresidenz Werneck, an deren Planung abermals Hildebrandt mitwirkte. Hier gelang ein Werk von traumhaft sicheren Verhältnissen in der Verteilung der Gewichte, der Idealfall eines mittelgroßen Landschlosses.
 
Bei anderen Schlössern wurde Neumann nur für das Treppenhaus herangezogen, so in Bruchsal, der Residenz des Speyerer Fürstbischofs und Kardinals Damian Hugo von Schönborn. Hier hatte der Bauherr eigenmächtig die Pläne geändert, weshalb die Treppe nicht mehr hineinpasste und stattdessen ein leeres »loch in der mitten« entstanden war. Aus dieser Not entwickelte Neumann 1731 ein neues Konzept, ein Treppenhaus in Ovalform, bei der der Anstieg nach oben ein befreiendes Erlebnis aus der Enge zur Weite und aus dem Dunkel zum Licht ist. Für Damian Hugo, der 1740 zusätzlich noch Fürstbischof von Konstanz geworden war, entwarf Neumann auch das Treppenhaus in Schloss Meersburg am Bodensee, ohne je dort gewesen zu sein.
 
Eine Notsituation hatte sich auch in Schloss Brühl bei Bonn ergeben, der Sommerresidenz des Wittelsbacher Kurfürsten und Fürsterzbischofs von Köln, Clemens August. Hier entwickelte Neumann die Grundidee für eine neue Treppe 1740 in kürzester Zeit auf der Durchreise. Bei Clemens August durfte er sogar an der kurfürstlichen Tafel mitspeisen, was eine hohe Auszeichnung war.
 
In den Jahren um 1740 stand Neumann auf dem Zenit seiner Laufbahn und seines Ansehens. Er war Oberbaudirektor in Würzburg und Bamberg und zugleich Professor für Zivil- und Militärbaukunst an der Würzburger Universität. Um das Stadtbild zu vereinheitlichen, lieferte er in Würzburg ohne Entgelt jährlich die Pläne für 20 bis 30 Häuser, und zudem schuf er hier eine neue Wasserzufuhr mit fließendem Frischwasser für die städtischen Brunnen.
 
Bei den Bauvorhaben hatte er sich nicht nur um die Pläne und die Organisation der Arbeiten zu kümmern, sondern auch um die Einrichtung und Ausstattung. Das Glas und die Spiegel lieferte er selbst, denn er betrieb als selbstständiger Fabrikunternehmer eine Glashütte im Steigerwald und eine Spiegelschleiferei in Würzburg. Das Geschäft florierte so gut, dass die Produkte bis nach Holland und England exportiert werden konnten. 1740 reiste Neumann deswegen nach Amsterdam. Der Aufgabenbereich des Oberbaudirektors ging so weit, dass für die Fasanenzucht leistungsstarke Hähne oder für die Jagd ein Hühnerhund besorgt werden mussten. Neumann erledigte auch solche Sonderwünsche; er war praktisch für alles zuständig.
 
Das Reisen wurde zunehmend zu seiner Hauptbeschäftigung, da er die vielen Baustellen regelmäßig zu inspizieren hatte, so auch die Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz. Der Bauherr war ein weiterer Schönborn, der Fürsterzbischof und Kurfürst von Trier, Franz Georg. In Sorge vor einer französischen Invasion ließ dieser durch Neumann die Bastionen der Festung noch weiter ausbauen. Neumann reiste nach Koblenz nicht weniger als 22-mal. In Bruchsal hingegen war er mit 12 Reisen ausgekommen und in Brühl mit sechs. Allein schon wegen der ständigen Reisen auf schlechten Straßen war Neumanns Leben höchst beschwerlich.
 
 Plötzlicher Karrierebruch
 
Doch 1746 war plötzlich alles vorbei, als sein Dienstherr Friedrich Karl starb. Der folgende Würzburger Fürstbischof, Graf Ingelheim, entließ Neumann aus dem Amt des Oberbaudirektors, weil dieser gerne baue und Kosten verursache. Auch in Bamberg verlor er sein Amt. Er war jetzt nur noch Offizier.
 
Arbeitslos als Architekt war er aber nicht. Auf den Trierer Kurfürsten Franz Georg von Schönborn konnte er sich auch weiterhin verlassen. Für ihn entwarf er jetzt die Pläne für ein Sommerschloss am Rhein bei Koblenz, das den Namen Schönbornlust trug, ein köstliches Lustschloss in der Art von Werneck mit einem originellen, dreistöckigen Treppenhaus, welches zu einem Belvedere oben auf dem Dach führte. Von dort oben konnte man auch Fasane schießen. Schönbornlust wurde schon 1806 dem Erdboden gleichgemacht, einer der schlimmsten Verluste für die deutsche Barockarchitektur.
 
In den Jahren der Amtsenthebung suchte Neumann von Würzburg wegzukommen. Sein Traum war eine Berufung nach Wien in kaiserliche Dienste. Die Gelegenheit schien günstig. Hildebrandt, der große Konkurrent, war soeben gestorben, und in Wien dachte man an einen Neubau der Hofburg. Zudem hatten Maria Theresia und ihr Gatte ein Jahr davor die Würzburger Residenz unter Neumanns Führung besichtigt und waren des Lobes voll gewesen. So arbeitete er 1746/47 für die Hofburg drei Projekte aus, ein kleines, ein mittleres und ein großes, unter denen man nach Maßgabe der Finanzen wählen konnte.
 
Es sollte dies mit dem höchsten nur denkbaren Anspruch ein wahres Kaiserschloss werden, mit dem Höhepunkt wieder im Treppenhaus. Das wäre eine Treppen»kathedrale« geworden, bei der die Würzburger Treppe spiegelbildlich verdoppelt und in einen gewaltigen Säulensaal eingestellt werden sollte; das Ganze ein Bild der kaiserlichen Erhabenheit, überhöht in die Sphäre sakrosankter Weihe. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Die Projekte wurden mit dem Hinweis auf die »verderblichen Kriegszeithen« abgelehnt; der Krieg gegen Preußen stand vor der Tür. Was Neumann blieb, war eine goldene Tabaksdose, die er »von der geheiligten Hand seiner Kayserlichen Majestät« zugesandt bekam.
 
Kurz darauf versuchte Neumann sein Glück beim Württemberger Herzog Karl Eugen, der in Stuttgart eine bescheidene, schon damals heftig kritisierte Residenz hatte beginnen lassen. 1747 reichte Neumann ein Gegenprojekt ein. Sein Schloss mit einem weiten Vorplatz und wieder einem großartigen Treppenhaus wäre eine Residenz von Weltformat geworden, wie sie auch einem König alle Ehre gemacht hätte. Neumann sah aber bald, dass der Herzog, der ohnehin lieber in Ludwigsburg residierte, an solchen Höhenflügen kein Interesse hatte.
 
Daraufhin suchte Neumann 1750 beim Markgrafen von Baden-Durlach in Karlsruhe Fuß zu fassen und 1752 schließlich noch bei Kurfürst Carl-Theodor von der Pfalz in Schwetzingen. Beide Male reichte Neumann Schlossbauprojekte ein, doch waren sie auch hier vergeblich.
 
Noch vor den beiden letzten Bewerbungen war Neumann in Würzburg glänzend rehabilitiert worden. Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenklau, der 1749 die Nachfolge des Grafen Ingelheim antrat, setzte Neumann sofort wieder in die alten Ämter ein, sogar mit dem Recht, jederzeit Zutritt zum Fürstbischof fordern zu dürfen. In Würzburg gab es aber kaum noch Bauvorhaben, die die Tatkraft des nunmehr 62-jährigen Neumann ausgefüllt hätten. Deshalb wollte er nach wie vor weg.
 
Doch schon wenig Jahre später, 1753, starb er im Alter von 66 Jahren. Mit allen militärischen Ehren, wie sie dem Obersten der fränkischen Kreisartillerie zustanden — hierzu gehörte auch ein Trauersalut der Kanonen von der Festung Marienberg —, wurde er unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in der Marienkapelle am Markt zu Grabe getragen.
 
 Wichtige Bauten Neumanns
 
In der Dienststellung als Hofbaumeister war Neumann immer primär ein Schlossbaumeister gewesen. Der Kirchenbau, der seinen Ruhm heute fast noch mehr ausmacht, war vom Arbeitsaufwand her eher nur eine Nebentätigkeit. Rein planerisch jedoch stellten die Kirchen ein Feld für Höchstleistungen dar, denn hier waren die Inventionskraft, die schöpferische Idee, der Sinn für Raumwirkung noch mehr gefordert.
 
Das heutige Bild von Neumanns sakraler Baukunst ist freilich unvollständig. Wichtige Bauten von europäischem Rang wurden schon früh abgerissen, so die gewaltige Abteikirche Münsterschwarzach am Main, die der Kenner Friedrich Karl von Schönborn für die schönste Kirche des Reiches hielt, und die Jesuitenkirche in Mainz. Andere Projekte von gleichem Rang wurden nicht ausgeführt. Sie waren bestimmt für das Zisterzienserkloster Langheim bei Lichtenfels am Main, für das Würzburger Jesuitenkolleg und, allen voran, für die Hofburg in Wien, ein Projekt von kaiserlicher Großartigkeit, bei dem Neumann sich selbst übertraf.
 
Die Kirchen, ganz gleich, ob ausgeführt oder nur geplant, haben im Schwierigkeitsgrad drei deutlich verschiedene Rangstufen. Die einfachsten Bauten weisen ein überall rechtwinkliges Gefüge auf, wie es durch die Tradition vorgegeben war. Die Invention ist hier nichts Besonderes. Die Qualität liegt in den immer wieder glücklichen Proportionen. Zu dieser Gruppe gehören die vielen Dorfkirchen Neumanns in Franken. Sie entstanden oftmals auf Betreiben des Friedrich Karl von Schönborn, der als Würzburger und Bamberger Bischof auch für Dorfkirchen Sorge trug und außerdem »beinahe alle Pfarrkirchen überall auf den gräflich Schönbornschen Herrschaften und Gütern in Gott gebührenden, sauberen Stand« bringen ließ, wie er 1743 in seinem Testament stolz vermerkte.
 
Auch einige größere Kirchen sind herkömmliche Normalbauten nach rektangulärem Anlageschema, so die Wallfahrtskirche Gößweinstein in der Fränkischen Schweiz, St. Paulin in Trier, die kreuzförmige Zentralkirche St. Peter in Bruchsal, die Pfarrkirche in Heusenstamm bei Frankfurt und auch das erste Projekt für das spätere Meisterwerk Vierzehnheiligen am Main. Diese Namen zeigen bereits an, in wie vielen Regionen Neumann für den Kirchenbau tätig war.
 
Bei den Kirchen der nächsthöheren Schwierigkeitsstufe gab Neumann jenem Raumteil, in dem Langhaus und Chor sich mit dem Querhaus kreuzen, also der Vierung, eine neue, höchst ungewöhnliche Form. Bislang war die Vierung im Normalfall ein quadratischer Raum mit vier gerade geführten Arkadenbögen über rechtwinklig ausgerichteten Pfeilern gewesen, bei größerem Anspruch noch zusätzlich erhöht durch eine Kuppel oder Tambourkuppel. Neumann aber macht aus der Quadratvierung genau das Gegenteil: einen überkuppelten runden oder ovalen Raum, also eine »Rotunde«. Die vier Arkaden verlaufen hier nicht über geradem Grundriss, sondern über gekurvtem, weil sie im Grundriss den Kreis oder das Oval nachzeichnen. Die Bögen schwingen auf diese Weise in alle vier Richtungen aus; das bisher starre Gefüge einer Vierung gerät in schwingende Bewegung.
 
Zur weiteren Auszeichnung der Vierungsrotunde setzte Neumann die Bögen nicht auf Pfeiler, sondern auf das würdigste Motiv, das es in der Architektur überhaupt gab: auf Doppelsäulen, die zu einem Säulenpaar verbunden sind. Durch die Säulen erhielt die Rotunde nicht nur eine gesteigerte Würde, sondern auch den Charakter eines eingestellten Ziboriums. Das wiederum erhöhte die sakrale Weihe.
 
Schon in Neumanns frühestem Sakralbau ist die Rotunde mit Säulenpaaren und vier ausschwingenden Bögen in größtmöglicher Perfektion verwirklicht: in der schönbornschen Grabkapelle am Würzburger Dom, die Fürstbischof Johann Philipp Franz 1719 gleichzeitig mit der Residenz in Auftrag gab. Hier ist die Rotunde ein kleiner, kreisrunder Zentralbau, der durch Anräume auf der Querachse erweitert wird. Die Schönbornkapelle ist ein Musterstück an Präzision und durchdachter Systematik; sie erweist, dass Neumann im Sakralbau schon mit seinem Erstling am Ziel war.
 
Nach der Erprobung der Rotunde mit Säulenpaaren in dieser Kapelle übertrug er das Motiv in den andersartigen Zusammenhang einer Vierung und zugleich ins Großformat. Die Vierungsrotunde wurde in immer wieder neuen, geistreichen Variationen zum Markenzeichen neumannscher Kirchen, zunächst mit einer hoch aufsteigenden Riesenkuppel in Münsterschwarzach, dann, verbunden mit einer Säulenbasilika, im Projekt für die siebentürmige Klosterkirche Langheim und endlich in der extrem steilen, höfisch anmutenden Emporenkirche der Mainzer Jesuiten nahe beim Dom. Zu höchster Schönheit verklärt wurde die Rotunde durch eine mehrschalige Ummantelung mit zweistöckigen Arkadenumgängen beim Projekt für die kaiserliche Hofburg in Wien und ins Grandiose gesteigert schließlich in der Abteikirche Neresheim, Neumanns Spätwerk.
 
Auch in kleineren Bauten setzte Neumann die Rotunde ein, so in den von Friedrich Karl in Auftrag gegebenen Dorfkirchen Etwashausen bei Kitzingen und Gaibach bei Volkach. Die Kirchen erhielten dadurch einen höheren Anspruch. In Gaibach, wo statt der Säulenpaare Pfeiler eingesetzt sind, erklärt sich der Anspruch durch das Gegenüber zu einem Schönbornschloss. In Etwashausen hingegen entstand gleich daneben die ebenfalls von Neumann entworfene schlichte Kirche der Protestanten. So konnte Friedrich Karl in diesem friedlichen Nebeneinander gleich zweierlei demonstrieren: seine Offenheit in Konfessionsfragen und die Überlegenheit des Katholizismus. Zu diesem Zweck wurde in der katholischen Kirche auf das Würdemotiv der Säulenpaare der größte Wert gelegt. Neumann rückte sie um einen Schritt von der Wand ab und stellte sie wie Bildwerke frei. Diese in einer Dorfkirche erprobte Idee fand ihre letzte Vollendung schließlich in Neresheim.
 
 Die drei Meisterstücke
 
Die allgemeine Vorstellung von Neumanns kirchlicher Baukunst verbindet sich richtig erst aber mit den drei Kirchen des höchsten Schwierigkeitsgrades. Es sind dies die Hofkirche in der Würzburger Residenz, Vierzehnheiligen und Neresheim. Hier nun gerät das gesamte Innere in eine schwingende Bewegung, da jede Wand, jeder Bogen kurvig verläuft. Nichts mehr erinnert an das herkömmliche rektanguläre Gefüge; die Innenarchitektur ist zur Gänze »kurviert«, während die Außenmauern gerade geführt sind. Die kurvierte Architektur hatte eine Genration früher in Oberitalien bei Guarino Guarini eingesetzt und war dann vor allem in Böhmen von Christoph Dientzenhofer weiterentwickelt worden. Ein fränkischer Ableger der böhmischen Bauten war die Klosterkirche Banz von Christophs Bruder Johann Dientzenhofer, der zu Anfang auch am Bau der Würzburger Residenz beteiligt gewesen war. Neumann schließlich brachte die Kurvierungen zu vollendeter Klarheit, indem er die äußerst komplexe Struktur der böhmischen Bauten radikal vereinfachte. Bei seinen kurvierten Bauten besteht das ganze Innere aus einer Abfolge von ovalen oder kreisrunden Rotunden, die sich jeweils berühren. Verbunden sind die Rotunden durch gekurvte Zwischenstücke, die im Grundriss Ovale zweiter Ordnung bilden. Diese treten nicht vollständig in Erscheinung, da sie von den Ovalen oder Kreisen der Rotunden überlagert und fragmentiert werden. Alle Wände und alle Gewölbebogen sind jetzt kurvig geführt; sie zeichnen ausnahmslos die Ovale und Kreise des Grundrisses nach. Die Würzburger Hofkirche ist von den drei kurvierten Längsbauten der früheste. Hier stand Neuman in Konkurrenz zu einem traditionellen Projekt des Lukas von Hildebrandt und ersann gerade deswegen etwas Außergewöhnliches: Zwei kleinere Rotunden fassen in der Mitte eine größere Längsovalrotunde ein, verbunden durch sekundäre Ovale. Das ergibt an den Raumgrenzen Spannung und schwingende Bewegung. Die hochfürstliche Würde erhält der Raum durch eingestellte Kolonnaden, deren Gebälk einen Gegenschwung zu den Gewölbebögen bildet. Der Raum lebt vom Schwung und Gegenschwung und dem vollen Klang der Säulen an den Kolonnaden. Hildebrandt steuerte die Dekoration bei, die in ihrer satten Buntfarbigkeit, dem Gold und Marmorglanz der Inbegriff fürstlicher Prunkentfaltung ist. In der Residenz stellt die Kirche einen zweiten Glanzpunkt neben dem Treppenhaus dar, eine Meisterleistung architektonischer Inventionskraft.
 
Die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, gelegen am oberen Main gegenüber Kloster Banz, wurde vom nahen Kloster Langheim gebaut, welches daraufhin den von Neumann geplanten Bau der eigenen Klosterkirche nicht mehr finanzieren konnte und aufgeben musste, obwohl die Klosterkirche eigentlich Priorität gehabt hätte. In Vierzehnheiligen ging zunächst alles schief. Neumanns Ausführungsprojekt wurde auf Betreiben des Abtes, der die Sache billiger haben wollte, von einem anderen Architekten verändert und restlos verpfuscht. Diese Fehler wurden von Neumann in einem zweiten Projekt bereinigt, einem Geniestreich, der den Raum nun in allen seinen Teilen kurvierte. Als das Innere einige Zeit nach Neumanns Tod von bayerischen Künstlern eine leichte Rokokoausstattung erhalten hatte, war es endgültig zu einem Fest der Sinnenfreude geworden, zum »Tanzsaal Gottes«, wie Vierzehnheiligen liebevoll genannt worden ist.
 
Die Abteikirche Neresheim auf dem schwäbischen Härtsfeld schließlich ist eine benediktinische Mönchskirche von strengerem Wesen. Der Abt, der für das Kloster die Reichsunmittelbarkeit anstrebte und deshalb eine Kirche von imponierender Wirkung wünschte, dachte an eine Zweitfassung von Münsterschwarzach, doch Neumann überzeugte ihn von einem neuen Konzept, an dem er zwei Jahre lang arbeitete. Rings um die Vierungsrotunde, die mit ihren freigestellten Säulenpaaren jetzt so mächtig und raumbeherrschend wie nie geworden ist, legen sich vier kurvierte Kreuzarme, die längeren in Langhaus und Chor, die kürzeren im Querhaus. Vollendet wurde der Bau, leider mit schweren Fehlern und gravierenden Veränderungen, erst lange nach Neumanns Tod, doch ist er trotz der Fehler immer noch das Großartigste, das die europäische Sakralbaukunst dieser Zeit zu bieten hat. In dem Raum, der sich ohne viel Ausstattung »im Knechtsgewand« eines kalten, wesenlosen Weiß präsentiert, herrschen keine heiteren Stimmungswerte wie in Vierzehnheiligen, sondern die Schärfe und Klarheit des reinen Geistes, der in der Architektur Gestalt geworden ist. Bei richtiger Ausführung nach Neumanns Konzept aber wäre der Raum eine einzige Vision des Grandiosen geworden. Neumann brachte hier in seinem letzten sakralen Werk alles noch einmal auf eine Höhe, die einsam über der Epoche steht, so als sollte Neresheim deren letztes und zugleich höchstes Vermächtnis sein.
 
 
Für die Wallfahrt zu den 14 Nothelfern, die dem Zisterzienserkloster Langheim gehörte, übernahm Neumann nach Vorentwürfen anderer Architekten 1742 auf Betreiben des Bamberger Fürstbischofs Friedrich Karl von Schönborn die Planung. Er projektierte eine durch Säulen ausgezeichnete Emporenbasilika mit Querhaus. Die Vierung sollte die festgelegte Stätte jener Wundererscheinungen umschließen, die die Wallfahrt hervorgebracht hatten. Die ganze Invention war zwar solide, aber nicht aufsehenerregend, und so wurden die folgenden Begebenheiten letztendlich zu einem Glück für Vierzehnheiligen. Die Ausführung übernahm der thüringische Architekt Krohne, ein Protestant. Dieser formte eigenmächtig, aber mit Billigung des Langheimer Abtes das Neumann-Projekt zu einer protestantischen Predigtkirche um und rückte die ganze Kirche ein Stück den Berghang hinauf, womit er sich Substruktions- und Erdarbeiten sparte. Der Abt wollte die Kosten niedrig halten, weil er nach wie vor vom Neubau der eigenen Klosterkirche träumte, die ebenfalls von Neumann entworfen war.
 
Die Wallfahrtskirche war schon begonnen, als die Sache bei einer Inspektionsreise Neumanns aufflog. Krohne wurde auf Druck des Fürstbischofs entlassen, und Neumann suchte nun die gemachten »lutherischen nebensprüng« durch ein neues Konzept zu bereinigen. Wegen der Verschiebung der Kirche am Hang lag der Ort der Gnadenstätte nicht mehr in der Vierung, sondern irgendwo im Langhaus, wo er durch nichts mehr ausgezeichnet war. Die Situation schien aussichtslos verfahren. Neumanns Wundermittel, die Sache doch noch zu retten, war eine große Ovalrotunde, die er um die Gnadenstätte legte und mit der er den Ort würdig inszenierte. Für die restlichen Bereiche, Chor, Querhaus und Eingangsraum, ergaben sich nun wie von selbst weitere Rotunden, und somit war der ganze Raum kurviert. Der heutige, von aller Welt bewunderte Raum ist also eigentlich eine Notlösung, doch führte die Not zu einem Geniestreich, der Neumann zum 15. Nothelfer machte.
 
 Das »Instrumentum Architecturae«
 
1713, zwei Jahre nach seiner Ankunft in Würzburg, erwies Neumann sich beim Studium der Architektur bereits als Praktiker und erfand sein »Instrumentum Architecturae«, das er eigenhändig anfertigte und signierte. Das Instrument erleichterte die Ermittlung der richtigen Proportion. Träger der Proportion waren seit der Renaissance die Säulenordnungen, wobei die Abmessungen der Säulen, ihr Verhältnis von Durchmesser zur Höhe, einem bestimmten Kanon zu entsprechen hatten. Die Lehre von der Proportion war ein Hauptanliegen der Theorie und hatte sich als Gegenstand vieler Traktate zur Wissenschaft der Architektur entwickelt. Auf Neumanns Instrumenten konnte man die Proportion der jeweiligen Ordnung, ob dorisch, jonisch, kornthisch usw., wie auf einem Rechenschieber ablesen und ersparte sich so die mühsamen Berechnungen. Das Instrument erweist, dass Neumann sich von Anfang an intensiv mit den Ordnungen und ihren Proportionen beschäftigt hat. Er nahm sie, wie auch die späteren Bauten zeigen, außerordentlich ernst und brachte sie, da sie die Grundlage jeder guten Architektur waren, zu höchster Meisterschaft.
 
Bernhard Schütz
 
 
Erich Franz: Räume, die im Sehen entstehen. Ein Führer zu sämtlichen Bauten Balthasar Neumanns. Ostfildern 1998.
 Wilfried Hansmann:Balthasar Neumann. Köln 1999.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”